Er hatte mit dichterischen Versuchen begonnen, früh eine blendende journalistische Begabung gezeigt und war zuerst als Pariser Korrespondent, dann als Feuilletonist der 'Neuen Freien Presse' der Liebling des Wiener Publikums geworden. Seine Aufsätze, heute noch bezaubernd durch ihren Reichtum an scharfen und oft weisen Beobachtungen, ihre stilistische Anmut, ihren edlen Charme, der selbst im Heiteren wie im Kritischen nie die eingeborene Noblesse verlor, waren das Kultivierteste, was man sich im journalistischen erdenken konnte, und das Entzücken einer Stadt, die für Subtiles den Sinn sich geschult hatte. Auch im Burgtheater hatte er mit einem seiner Stücke Erfolg gehabt, und nun war er ein angesehener Mann, vergöttert von der Jugend, geachtet von unseren Vätern, bis eines Tages das Unerwartete geschah. Das Schicksal weiss immer sich einen Weg zu finden, um den Menschen, den es braucht für seine geheimen Zwecke, heranzuholen, auch wenn er sich verbergen will.
Theodor Herzl hatte in Paris ein Erlebnis gehabt, das ihm die Seele erschütterte, eine jener Stunden, die eine ganze Existenz verändern; er hatte als Korrespondent der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus' beigewohnt, hatte gesehen, wie man dem bleichen Mann die Epauletten abriss, während er laut ausrief: 'Ich bin unschuldig.' Und er hatte bis ins innerste Herz gewusst in dieser Sekunde, dass Dreyfus unschuldig war und dass er diesen grauenhaften Verdacht des Verrats einzig auf sich geladen hatte dadurch, dass er Jude war. Nun hatte Theodor Herzl in seinem aufrechten männlichen Stolz schon als Student unter dem jüdischen Schicksal gelitten - vielmehr, er hatte es in seiner ganzen Tragik schon vorausgelitten zu einer Zeit, da es kaum ein ernstliches Schicksal zu sein schien, dank seines prophetischen Instinkts der Ahnung. ... Jetzt aber in der Stunde der Degradierung Dreyfus' fuhr der Gedanke der ewigen Ächtung seines Volkes wie ein Dolch ihm in die Brust. Wenn Absonderung unvermeidlich ist, sagte er sich, dann eine vollkommene! Wenn Erniedrigung unser Schicksal immer wieder wird, dann ihm begegnen durch Stolz. Wenn wir leiden an unserer Heimatlosigkeit, dann eine Heimat uns selbst aufbauen! So veröffentlichte er seine Broschüre 'Der Judenstaat', in der er proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle Hoffnung auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es müsse eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten Heimat Palästina.
...Im ersten Augenblick konnte sich Herzl missverstanden fühlen; Wien, wo er sich durch seine jahrelange Beliebtheit am sichersten vermeinte, verliess und verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte Antwort mit solcher Wucht und Ekstase so plötzlich zurück, dass er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn weit überwachsende Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt gerufen. Sie kam freilich nicht von den behaglich lebenden, wohlsituierten bürgerlichen Juden des Westens, sondern von den riesigen Massen des Ostens, von dem galizischen, dem polnischen, dem russischen Ghettoproletariat. Ohne es zu ahnen, hatte Herzl mit seiner Broschüre den unter der Asche der Fremde glühenden Kern des Judentums zum Aufflammen gebracht, den tausendjährigen messianischen Traum der in den heiligen Büchern bekräftigten Verheissung der Rückkehr ins Gelobte Land - diese Hoffnung und zugleich religiöse Gewissheit, welche einzig jenen getretenen und geknechteten Millionen das Leben noch sinnvoll machte. ... Mit ein paar Dutzend Seiten hatte ein einzelner Mann eine verstreute, verzwistete Masse zur Einheit geformt.
... Die Krankheit, die ihn damals zu beugen begann, hatte ihn plötzlich gefällt, und nur zum Friedhof konnte ich ihn begleiten. Ein sonderbarer Tag war es, ein Tag im Juli, unvergesslich jedem, der ihn miterlebte. Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug, bei Tag und Nacht, aus allen Reichen und Ländern, Menschen gefahren, westliche, östliche, russische, türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten stürmten sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im Gesicht; niemals spürte man deutlicher, was früher das Gestreite und Gerede unsichtbar gemacht, dass es der Führer einer grossen Bewegung war, der hier zu Grabe getragen wurde. Es war ein endloser Zug. Mit einemmal merkte Wien, dass hier nicht nur ein Schriftsteller oder mittlerer Dichter gestorben war, sondern einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem Volk nur in ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am Friedhof entstand ein Tumult; zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarg, weinend, heulend, schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei einem Begräbnis gesehen. Und an diesem ungeheuren, aus der Tiefe eines ganzen Millionenvolkes stosshaft aufstürmenden Schmerz konnte ich zum erstenmal ermessen, wieviel Leidenschaft und Hoffnung dieser einzelne und einsame Mensch durch die Gewalt seines Gedankens in die Welt geworfen.
No one who was present at the funeral will ever forget that July day. In every railway station in the city every train during the day and night brought its load of people from every country. Jews came from East and West, from Russia and from Turkey. They hurried from every region, from every townlet. They were all deeply distressed - the news was still engraved on their faces. Never had been more clearly revealed that till now had been concealed by the quarreling and slander - the leader of a great movement was dead. The procession was never-ending. Vienna mourned and lamented not only a writer but one of those great thinkers who appear once in a century. This owerpowering and widespread grief, stemming from the hearts of thousands of people, made clear to me for the first time what enthusiasm and hopes this lone, solitary man had been able to arouse by virtue of a single thought.
 
 

 

 

 

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05 Nov 2007 / 24 Heshvan 5768 0